Impressionen aus dem Jahr 2004 – Spuren von Ignacio Sánchez Mejías 70 Jahre nach seinem Tod

Ignacio Sánchez Mejías starb am 13. August 1934, in Madrid, an den Folgen der Hornverletzung durch den Stier Granadino. Das Haus, in dem er starb, steht in der Calle Goya mit der Nummer 120. Dort befand sich damals die Klinik des Arztes, bei dem ISM Hilfe gesucht hatte. Heute wirkt dieses Haus unschön trostlos und grau, ein Seniorenheim ist dort untergebracht iconPic.gif (173 Byte).

Nicht nur in der Stierkampfpresse erschienen anlässlich desTodestags Artikel über ISM. Auch in den Feuilletons aller spanischen Tageszeitungen gedachte man des multitalentierten Toreros, der sich literarisch und in der Welt des Theaters engagierte, der als Freund und Mäzen berühmter Dichter, Musiker, Tänzer noch heute lebendig ist. Im Geburtshaus von Lorca in Fuente Vaqueros bei Granada iconPic.gif (173 Byte) fand im Juni diesen Jahres eine Gedenkfeier für ISM statt, zu der auch seine Tochter eingeladen war, die inzwischen etwa 80 Jahre alt ist.

In Granada ist Federico García Lorca als der große Sohn der Stadt beinahe omnipräsent. Schon bei der Ankunft auf dem Flughafen fielen die Papiertragetüten mit Lorcas Portrait auf, die – so war zu erfahren – vom Ayuntamiento, der Stadtverwaltung, vertrieben wurden. Politisch verfolgt, verraten, 1936 ermordet und über Jahrzehnte noch in seiner Identität als Homosexueller totgeschwiegen, ist das öffentliche Interesse an ihm überwältigend. Der Gedanke liegt nahe, dass Wiedergutmachungs-Reaktionen auf dem Hintergrund von Schuldgefühlen dabei eine große Rolle spielen. Lorca selbst wäre vermutlich über die Vereinnahmung durch einen konservativ-reaktionären Politiker wie den früheren Regierungschef Aznar befremdet gewesen.

Lorca wird zweifellos vermarktet. Aber deutlich zeigen sich auch zärtliche Zuneigung, Verehrung und Trauer zeitgenössischer Künstler aus der Welt der Literatur, der Musik und darstellenden Kunst. Regelmäßig finden zu seinem Geburtstag öffentliche Veranstaltungen statt. Immer wieder haben sich Künstler von seinen Werken anregen lassen. Zu ihnen gehörte der große Flamencosänger Camarón de la Isla iconPic.gif (173 Byte), 1992 im Alter von nur 40 Jahren gestorben.

Einen Teil seiner wunderbaren Lorca-Vertonungen findet man neben denen anderer berühmter Sänger und Sängerinnen auf der CD: „Los gitanos cantan a Federico García Lorca". Enrique Morente, ebenfalls als hervorragender Flamencosänger bekannt, singt Lorca ebenso wie Estrella Morente iconPic.gif (173 Byte) , seine schöne, junge Tochter. Sie ist mit Javier Conde iconPic.gif (173 Byte) , einem ästhetisch-künstlerisch ganz besonders talentierten Torero verheiratet, der mit dem ebenmäßig dunkel-sanften Aussehen dem Bild eines „typischen" klassischen Toreros entspricht.

Die Welt der Literatur, der Musik, des Tanzes, ist wie zu ISM´s Zeiten eng mit der Welt der Stiere verbunden. Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa z.B. streitet als Südamerikaner für den Erhalt der Corrida de Toros in Spanien und polemisiert gegen das drohende Verbot der Corrida durch die katalanische Regierung. Ebenso wie König Juan Carlos und andere Mitglieder des Königshauses besucht er gelegentlich Stierkämpfe, und handelt sich damit die Kritik der Stierkampfgegner ein. Wie viele andere Künstler ist Vargas Llosa schon als Kind von der Corrida de Toros fasziniert gewesen. In einer autobiographisch ausgerichteten, geistreich-humorvollen Kurzgeschichte – „La capa de Belmonte" - veröffentlicht in El País am 2. November 2003, erfahren wir von entsprechenden Erlebnissen und Träumen in seiner frühen Jugend, die ihn nachhaltig beeindruckten und inspirierten.

Der oben erwähnte Flamencosänger Camarón de la Isla wollte als Heranwachsender Torero werden. Dasselbe Berufsziel hatte als junger Mann der in Deutschland – besonders durch die Saura-Verfilmung seines Balletts Carmen, aber auch seine tänzerische Interpretation von Lorcas „Bluthochzeit" – bekannte Tänzer und Choreograph Antonio Gades iconPic.gif (173 Byte). Camarón als Gitano und Gades als Arbeitersohn – beide wollten mit diesem Beruf auch der Armut entkommen. Über Antonio Gades, der am 20. Juli d.J. im Alter von 67 Jahren starb, war in der Tageszeitung El País nachzulesen, dass ihn im Alter von 16 Jahren die Tänzerin Pilar López iconPic.gif (173 Byte) seinen jugendlichen Berufswunsch mit folgenden Argumenten ausgeredet hatte: Ohne Zweifel hätte er das Zeug zu einem großen Torero, aber ihrer Meinung nach genau so zu einem großen Tänzer. Sollte er sich weiter den Stieren widmen, könnte er u.U. bald vom Stier erwischt werden. Das aber würde das Ende sowohl für seine Torero- wie für die Tänzerlaufbahn bedeuten. – Die heute 93 Jahre alte Pilar López, die noch immer körperlich und geistig bewegliche Ausbilderin vieler Tänzer und Tänzerinnen, zeigte sich über den Tod ihres früheren Eleven („Mein Junge, mein Kind!" so hat sie ihn beweint – laut El País vom 21.7.04) untröstlich. Pilar López ist die jüngere Schwester von Encarnación López, La Argentinita genannt, die 10 Jahre lang Ignacios Geliebte und künstlerische Partnerin war bei der Aufführung seiner operetten- bzw. musical-ähnlichen Bühnenstücke. Im Salon von Pilar López stehen Erinnerungsfotos von ISM auf dem Flügel, auf dem Lorca zur Begleitung von La Argentinitas Gesang gespielt hat.

Hier schließt sich der Kreis wieder zu Ignacio Sánchez Mejías, an dessen Person die enge Verflechtung des kulturellen Lebens in Spanien mit der Tradition des Stierkampfs ganz besonders deutlich wird. Sein Theaterstück „Sinrazón" iconPic.gif (173 Byte), das 1928 im Calderón-Theater von Madrid uraufgeführt wurde, hat mit dem Stierkampf allerdings nichts zu tun. Auf ironisch-geistreiche Art setzt sich ISM in diesem tragikomischen Schauspiel (er nennt es un juguete trágico en tres actos) mit den damals allenfalls einem intellektuellen oder medizinisch-neurologisch interessierten Publikum bekannten psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds auseinander.

Immer wieder erweist sich der Stierkampf als faszinierender Focus, mit dessen Hilfe man sich spanischer Geschichte und Kultur verstehend annähern kann. Das ist selbst in der Auseinandersetzung mit der (stierkampf-)gegnerisch-kritischen Seite möglich, die – wie der Journalist und Schriftsteller Manuel Vicent in seinem 2001 mit dem Titel „Antitauromaquia" erschienenen Buch – das „schwarze Spanien" mit seinen grausamen Traditionen herauf beschwört. Allerdings findet sich auch bei Manuel Vicent heftigste Polemik, Sachlichkeit lässt das „Toreo" (= alles im Zusammenhang mit dem Bekämpfen von Stieren) bei ihm nicht zu. In einer seiner regelmäßig in El País erscheinenden Kolumnen äußerte er sich (am 2.5.04) empört und erbittert über die Tatsache, dass zu Ehren der Opfer des Attentats vom 11. März 2004 in Madrid Benefiz-Stierkämpfe stattfanden.

In Spanien gibt es eine Fülle an Literatur zum Stierkampf. Verschiedene Dissertationen sind in den letzten Jahren verfasst worden: u.a. von Mariate Cobaleda, die sich mit „El Simbolismo del Toro" befasst. „Der Stierkampf als Kultur und Spiegel der Menschheit" untertitelt, Madrid 2002. Im Oktober 2004 stellte eine andere junge Frau ihre Doktorarbeit einem kundigen Auditorium in der Aula Cultural der Plaza von Las Ventas vor.

Im Jahr 2003 ist an der Universität von Córdoba ein Lehrstuhl für Taurologie eingerichtet worden, zunächst auf 4 Jahre angelegt.

Im Jahr 2004 hat sich die Kontroverse zwischen Gegnern und Befürwortern des Stierkampfs innerhalb Spaniens verschärft. Die katalanische Regierung verbietet den Stierkampf. Die Folge des Verbots: Es finden – wie in Barcelona – zwar weiterhin jeden Sonntag Stierkämpfe statt; da aber keine öffentliche Werbung (Plakatierung etc.) mehr zugelassen ist, sind die Besucherzahlen zurück gegangen.

Die Versuche der Stierkampfbefürworter, vertreten durch bekannte Toreros, Ganaderos, Künstler, Wissenschaftler und Journalisten die Corrida de Toros als Weltkulturerbe zu verteidigen und zu erhalten, sind zahlreich. Für die Beibehaltung der Stierkämpfe in Barcelona läuft seit Monaten eine Unterschriftenkampagne, auch über das Internet.

Anfang des Jahres 2005 treffen sich bekannte und intelligente Toreros wie Joselito iconPic.gif (173 Byte), Espartaco iconPic.gif (173 Byte) und Fernado Cepeda iconPic.gif (173 Byte) von der „agrupación taurina" mit Vertretern der PP, der konservativen derzeitigen Oppositionspartei, um auf das Schicksal der Tauromaquie aufmerksam zu machen. Fernando Cepeda, der nicht nur Matador de Toros, sondern auch angehender Jurist ist, hofft, dass man auch seitens der PSOE mit Unterstützung bei der Verteidigung der „Fiesta de los Toros" rechnen kann. Regierungschef Zapatero ist nicht als „aficionado a los toros" bekannt. Aznar (s.o.) hat es sich während seiner Regierungszeit nicht nehmen lassen, bei gelegentlichen Corridabesuchen populäre Präsenz zu zeigen. Franco, der sich für Stierkämpfe nie interessiert hatte, sie angeblich sogar ablehnte, hat seine Popularität und Volkstümlichkeit mit Stierkampfbesuchen und entsprechenden Gunstbezeugungen in Bezug auf beliebte, vom Volk favorisierte Toreros, proklamiert. Es ist verständlich, dass die PSOE sich bedeckt hält, um nicht in den Verdacht der „Machtsicherung" mit vergleichbaren Methoden zu geraten. Bekannt geworden ist jedoch inzwischen, dass sich eine Ministerin sehr dezidiert für den Erhalt der Tradition des Stierkampfs ausgesprochen und das mit dem Besuch einer Corrida de Toros unterstrichen hat. -

Dem großen Torero Manolete (1917 – 1947) – auch wenn seine Qualifikation von manchen Kennern inzwischen polemisch betrachtet wird - hat man seitens linker Kreise diese „Verbrüderung" mit Franco nie verziehen. (Ähnlich erging es auch noch dem als Popstar der Stierkampfszene in den sechziger Jahren bis heute bekannten Torero Manuel Benitez „El Cordobés".) Eine peruanische Freundin, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, schildert mit Begeisterung, dass sie als Siebenjährige mit ihren Eltern den großen Manolete in den vierziger Jahren in der Plaza von Lima gesehen hat. Bis heute ist Carmen tief beeindruckt von diesem Erlebnis iconPic.gif (173 Byte). –

Auf der Suche nach Literatur zum Stierkampf betrat ich vor einigen Jahren im Madrider „Dichterviertel" nahe der Plaza Sta Ana ein Antiquariat, das von zwei Brüdern geführt wird, die Manolete persönlich gekannt hatten. Die Eltern der jetzt älteren Herren hatten ein Restaurant geführt, in dem Manolete regelmäßig verkehrte. Der jüngere der beiden Brüder erinnert sich, dass er dort auf Manoletes Schoß gesessen hatte. Dessen Art zu gehen hatte es ihm als Kind besonders angetan. Noch heute leuchten seine Augen bei der Erinnerung an den verehrten Maestro. Während er dessen lässig-arroganten Gang beschreibt, gelingt es ihm, dem kleinen und eher rundlichen Senor R., uns Anwesenden die schmale, elegante Figur Manoletes zu evozieren, indem er dessen typische stolz-selbstbewusste Haltung kongenial nachahmt. Zu vermuten ist, dass Senor Rojo, der uns auch einige Pases der Toreros mit imaginärer Capa oder Muleta vorführt, als Kind davon träumte, Torero und berühmt zu werden. – Im hinteren Raum des Antiquariats der Brüder Rojo hängt ein Ölbild des in der Welt der Stiere bekannten und geschätzten Malers Roberto Domingo. Aus demselben Raum holen die Brüder Stapel von alten papierbrüchigen Stierkampfzeitungen, die sie mit größter Vorsicht behandeln, u.a. auch eine Sonderausgabe zum Tod Manoletes im August 1947 in der Plaza von Linares iconPic.gif (173 Byte).

Wie überaus lebendig der tote Manolete selbst in der jüngeren Generation erhalten ist, zeigt der Direktmitschnitt eines Konzerts, in dem der beliebte Gitarrist und Sänger Joaquín Sabina ein Lied singt mit dem Titel „De Purísima y Oro". Er erzählt wie in einer spannenden Geschichtsstunde am Beispiel der Person des Toreros aus der Zeit des Nachbürgerkriegs – und das überwiegend junge Publikum singt den anspruchsvollen Text mit Einzelheiten aus dem damaligen Alltag begeistert mit. *

Ein Ort in Madrid, an dem Manolete während der Temporada (Stierkampfsaison) regelmäßig anzutreffen war, ist das an der o.e. Plaza Sta Ana gelegene Hotel Reina Victoria iconPic.gif (173 Byte), in dem für ihn das Zimmer 220 reserviert war. Dort bereitete er sich für seine Auftritte in der Plaza von Las Ventas vor. Zahllose Toreros in den Jahrzehnten nach ihm sind bis zum Oktober des Jahres 2004 traditionsgemäß ebenfalls dort abgestiegen. Das Hotel wurde an die Hard-Rock-Kette verkauft und im November wegen Renovierung geschlossen. In der Bar Manolete iconPic.gif (173 Byte) des Hotels Victoria traf sich die „Welt der Stiere" und deren Anhänger: Empresarios aus Spanien, Südamerika und Frankreich, ehemalige und zukünftige sowie verarmte und einsame Toreros, „pensionierte" Mozos de Espadas und Aficionados aus allen Ländern. (Dass unter ihnen immer wieder Imitate Hemingways – ebenfalls ein häufiger Gast des Hotels - auffielen, gehörte dazu). Die Bar Manolete mit ihrer dichten taurinischen Atmosphäre war ein Ort des Kults und der Kultur, der lebendigen historischen Tradition. Die Mitarbeiter des Hotels weinten nicht nur über den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Wie Teo, der Barmann des Hotels iconPic.gif (173 Byte), der in seiner Jugend auf eine Karriere als Torero verzichten musste und in Pedro Almodóvars Film "Hable con ella" einen kurzen Auftritt an seinem Arbeitsplatz hatte – betrauerten sie den Verlust ihrer Geschichte und beweinten bei der Schließung des Hotels den Tod Manoletes aufs neue.

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